Die Staumauer Marina Barrage hat die Meeresbucht in einen Binnensee verwandelt.

»Wir nutzen jeden Tropfen«

Singapur verfügt über keine nennenswerten Quellen oder Trinkwasserreserven, war von seinen Nachbarn abhängig. Jetzt ist der asiatische Stadtstaat ein Musterbeispiel dafür, wie die Wasserprobleme der Zukunft gelöst werden können.

„Stellt ihnen das Wasser ab, stellt ihnen das Wasser ab“, skandierte die Menge. Sucht man nach einem Moment, der Singapurs Bevölkerung vor Augen führte, dass sie einmal auf dem Trockenen sitzen könnte, dann war das dieser Tag im Herbst 1998. Kurz nach Ausbruch der Asienkrise stand das Nachbarland Malaysia vor dem finanziellen Zusammenbruch. Singapurs Regierung hatte einem Rettungspaket zugestimmt, wollte Malaysias damaligem Regierungschef Mahathir Mohamad dafür aber harte Zugeständnisse abringen.

Die Stadtoberen verlangten, dass der Vertrag von 1962, nach dem Malaysia sich verpflichtet hatte, Singapur Wasser auf 99 Jahre zum Sonderpreis zu liefern, quasi endlos fortgeschrieben wird. „Unsere Freundlichkeit gegenüber dem Nachbarn hat Grenzen“, brüllte Mahathir, und die Menge johlte: „Stellt das Wasser ab.“

Was den südostasiatischen Inselstaat Singapur, 5,8 Millionen Einwohner, mit den 31 Millionen Malaysiern auf dem Festland verbindet, ist nicht nur die gemeinsame Kolonialgeschichte. Geografisch gesehen ist es besonders ein 1.056 Meter langer und 18 Meter breiter Verbindungsdamm, der Causeway. Auf vier Spuren rollen darüber seit 1923 Waren in die und aus der Stadt. Entlang des Causeways wird zudem in gigantischen Rohren Trinkwasser vom Linggiu-Reservoir im Süden Malaysias nach Singapur gepumpt.

Ob auf der Straße oder zu Hause: In Singapur kann man aus dem Wasserhahn trinken – eine Seltenheit in Asien.

Wasserverträge bei UNO hinterlegt

1998 kamen noch 70 Prozent des Wassers aus dem Nachbarland. Den derzeitigen Verbrauch von 400 Millionen Gallonen pro Tag (1,5 Millionen Kubikmeter) stillt Malaysia noch zur Hälfte. „Mahathirs Drohgebärde war ein heilsamer Schock für Singapur“, sagt Cecilia Tortajada. „Es ermahnte uns, nie selbstgefällig zu werden.“ Gemeinsam mit gut 50 weiteren Wasserexperten forscht sie am Institut für Wasserwirtschaft der Lee-Kuan- Yew-Schule für politische Studien, gelegen inmitten des Botanischen Gartens, einem UNESCO-Weltkulturerbe. Tortajada ist eine der führenden Experten für städtisches Wassermanagement. Schon als junge Wissenschaftlerin war sie bei Studien in ihrer Heimatmetropole Mexiko-Stadt auf Singapur gestoßen und fand alsbald, dass Südamerika und die ganze Welt von der „kleinen Stadt in Asien“ lernen müssen.

Warum? „Weil hier jeder Bürger Wasser aus der Leitung trinken kann.“ Für einen Europäer mag das selbstverständlich sein. In Asien ist das aber außer in Singapur nur in Japan ohne Gefahr für die Gesundheit möglich. Überall auf der Welt wisse man von der politischen Sprengkraft der Wasserthematik, sagt die habilitierte Biologin, „aber nur die Singapurer gönnen sich den Luxus, 50 oder 100 Jahre vorauszuplanen“.

»Luxus, 50 oder 100 Jahre vorauszuplanen.«

Cecilia Tortajada,

mexikanische Biologin am Institut für Wasserwirtschaft in Singapur, über die Herangehensweise in dem Stadtstaat.

Das erwies sich als goldrichtig. Denn schon am 9. August 1965, als Lee Kuan Yews Singapur seine Unabhängigkeit erklärte, ließ Malaysias Ministerpräsident Abdul Rahmat verkünden, er könne dem Stadtstaat jederzeit den Wasserhahn abdrehen, wenn ihm die Politik dort nicht passe. Lee sah das mehr als Ansporn denn als Drohung. Bereits 1971 entwarf der gerade ins Leben gerufene Energieversorger PUB (Public Utility Board) den ersten generalstabsmäßigen Plan zur Gewinnung von städtischem Trinkwasser. Drei Jahre später versuchten sich die PUB-Ingenieure an einer Meerwasserentsalzungsanlage. Das Projekt scheiterte nur daran, dass es weltweit noch keine bezahlbare Technologie dafür gab.

So kanalisierte man erst mal das Wasser, das es in Hülle und Fülle gab: tropische Regenfälle. Mit 2.500 Millimeter Niederschlägen gehen in Singapur 150 Prozent mehr Schauer nieder als etwa in London. In allen Wohngebieten, entlang der Hauptverkehrsadern und selbst am Rande der wenigen verbliebenen Urwälder wurden nun Abwasserkanäle angelegt. Großflächige, durch Monsunregen ausgelöste Überschwemmungen – typisch für die Tropen und noch heute ein stetes Problem in anderen südostasiatischen Millionenstädten - gehörten der Vergangenheit an. Das so gesammelte Nass floss jetzt in riesige Rückhaltebecken und Reservoire; 17 gibt es davon heute. Sie sind als künstliche Seen das Zentrum von Naherholungsgebieten.

Deep Tunnel Sewerage System (DTSS), also Tiefe-Tunnel-Abwasser-System, nennen sich die unterirdischen Kanäle. Phase 1 wurde 2008 abgeschlossen, Phase 2 folgt bis 2025.

Unterwasserkanäle durchziehen Singapur

Staumauer und Entsalzungsanlage

An anderen Stellen wurde die Küstenlinie mit Dämmen begradigt, damit sich in künstlichen Seen Süßwasser sammelt. Das hatte den positiven Nebeneffekt, dass die Stadt um etwa 120 Quadratkilometer auf heute 719 anwuchs. „Das Problem nur: Man müsste die gesamte Stadt fluten, damit wir unseren Verbrauch allein mit Regenwasser decken könnten“, sagt Tortajada. Der Mahathir-Schock kam den Stadtoberen gerade recht. Jetzt propagierten sie den Wasser-Masterplan „Four Taps“. Als „Wasserhahn eins und zwei“ formierten das Reservoir in Malaysia und der gesammelte Monsunregen. Für „Hahn drei und vier“ investierte die Regierung umgerechnet zwei Milliarden €.

Unter der Überschrift „New Water“ verpasste der Versorger PUB dem Inselstaat ab der Jahrtausendwende ein Netzwerk von Trinkwassergewinnungsanlagen. Mit riesigen Bohrmaschinen, wie sie sonst nur beim Tunnelbau in den Alpen zum Einsatz kommen, wurde der Fels unter der tropischen Insel mit haushohen Tunnelröhren in über 50 Meter Tiefe durchzogen. Aufgabe dieser mehrere Hundert Kilometer langen Leitungen ist es, sämtliche Abwässer der Stadt zu sammeln. Eigentlich ist „New Water“, das es sogar in Flaschen zu kaufen gibt, Abwasser, das zu Trinkwasser nach EU-Standard verarbeitet wird.

Am Ende des nun insgesamt 8.000 Kilometer langen Netzwerks aus unter- und oberirdischen Kanälen wurden fünf neue Wasserwerke gebaut. Dazu kommen noch derzeit drei, bald vier Meerwasserentsalzungsanlagen.

Das größte Einzelprojekt dabei, die Marina Barrage, ist ein 350 Meter langer Staudamm, der die gesamte Bucht in einen Binnensee verwandelt hat. Was heute das Gesicht Singapurs prägt, die Skyline rund um das Casino- Hotel Marina Bay Sands entlang der Formel-1-Strecke, steht auf der hufeisenförmigen Landzunge, die mit dem Bau des Marina-Bay-Reservoirs dem Meer abgerungen wurde.

Die Staumauer ist zugleich Teil einer Entsalzungsanlage, die den einstigen Meeresarm in einen Süßwassersee von 10.000 Hektar verwandelt hat. „Mit Ausnahme der Flasche New Water, die Sie vielleicht im Flugzeug außer Landes bringen, garantiere ich, dass wir ab heute jeden Tropfen Wasser in Singapur wiederverwerten“, verkündete Yaacob Ibrahim, der damalige Minister für Wasserressourcen, bei der Einweihung. Die Eröffnung im Jahr 2008 kam genau zur rechten Zeit. Denn in den Jahren danach wurde ganz Südostasien von verheerenden Dürreperioden heimgesucht. Und es wird nicht besser. 2014, 2015 und 2016 waren so trocken, dass die Linggui-Talsperre („Tap eins“) in Malaysia ganz auszutrocknen drohte.

Angst vor Terrorangriffen

Wegen der Angst vor Terrorangriffen – Islamisten haben damit gedroht, das Trinkwasser zu vergiften - darf derzeit keine Anlage im Wassernetz der PUB besucht werden. Einzige Ausnahme ist das Wasserwerk im Stadtteil Changi. Täglich werden hier Schulklassen an Glaswänden vorbeigeführt, hinter denen Ingenieure und Techniker Wasserkreisläufe überwachen.

„Einer der größten Wasservorräte seid ihr selbst“, erzählt die Führerin Nallini, die eine krakeelende Schulklasse durch das Labyrinth aus Schautafeln, Animationsspielen und Wasserrohren führt. Jeder Singapurer verbraucht 149 Liter Wasser am Tag. Das ist deutlich weniger als etwa die Saudis mit 1.000 Liter, aber die Hamburger sind schon bei 120 Liter angelangt. Und deshalb erklärt Nallini, wie die Kinder mithelfen können, dass Singapur zu „einer Wasserstadt der Ersten Welt“ werde.

»Einer der größten Trinkwasservorräte seid ihr selbst.«

Nallini,

Tourguide im Wasserwerk des Stadtteils Changi, ruft Besucher zu Sparsamkeit auf.

„Wer von euch putzt morgens und abends die Zähne bei laufendem Wasserhahn?“, fragt sie. Fast alle Hände gehen hoch. „Dann nehmt ihr ab heute Abend einen Zahnputzbecher“, sagt sie im gestrengen Ton einer Gouvernante. „Damit könnt ihr pro Tag elf Liter sparen.“

Deutlich beeindruckt verlassen die Kinder das Besucherzentrum. Offensichtlich ist die Stadtregierung auch heute bei der Wassergewinnung wieder einen deutlichen Schritt vorangekommen. „Tap fünf“ soll nämlich in Zukunft die Erziehung zum Wassersparen sein. Ab 2061 will Singapur seinen Wasserbedarf ganz allein decken.

Jürgen Kremb

Der frühere Spiegel-Korrespondent, seit 1998 in Singapur, berät Unternehmen und politische Institutionen bei ihrer Asienstrategie. Nach einem Aufenthalt von acht Jahren in Peking freute er sich, als er das Wasser in Singapur ohne Gefahr für Leib und Leben aus dem Wasserhahn trinken konnte.