Alltag in Indien: anstehen für Trinkwasser

DURSTIGES INDIEN

Wasserknappheit verbindet sich in Indien mit Wasserverschmutzung. Doch jetzt tauchen überall im Land Helden auf, die den Indern zurückgeben wollen, was sie von Natur aus im Überfluss haben – Wasser.

Die Lage (1)

Wassermangel

Jeden Morgen dreht die Haushaltsgehilfin Sumathii den einzigen Leitungshahn ihrer Wohnung auf, in einem Slum von Mumbai.

Einmal in der Früh füllt sie eine große Tonne mit Wasser. Sie braucht den Vorrat, denn Wasser fließt nur für eine Stunde am Tag. Und damit gehört Sumathii noch zu den Glücklichen.

Denn ihre Nachbarn auf der gegenüberliegenden Straßenseite haben keinen Wasserhahn zu Hause. Dreizehn Familien teilen sich dort eine öffentliche Leitung, aus der nur von 23.30 bis ein Uhr nachts Wasser fließt. Jeder Einwohner darf zehn Töpfe Wasser füllen. Doch die Familien besitzen gar nicht zehn Töpfe, müssen deshalb mehrmals kommen. Oft reicht das Wasser nicht für alle. Deshalb ist jeden Tag eine andere Familie die erste. „Wir kamen auf die Idee, die Reihenfolge festzulegen, nachdem wir jahrelang um das Wasser gekämpft hatten“, erklärt Kaalima. Um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, wäscht sie das Geschirr in den Häusern wohlhabender Leute. Die haben immer Wasser. Zwar sind im Prinzip auch sie von dem Mangel betroffen. Doch sie können sich behelfen, indem sie Wasser auf Vorrat kaufen und in ihren Häusern in Tanks lagern.

Liter Abwasser täglich erzeugen Indiens wichtigste Städte, so hat es die Umweltbehörde des Landes kalkuliert.

700 Kilometer entfernt, in einem Slum der Stadt Hyderabad, sieht es genauso aus wie bei Kaalima. Auch hier stehen die Frauen früh am Morgen Schlange, um Wasser von der gemeinsamen Versorgungsstelle zu holen. In ländlichen Gebieten geht es den Armen noch schlechter. Der Dokumentarfilm „H2WOE. India’s Water Crisis: A Warning To The World“ zeigt die Wasserkatastrophe im Bundesstaat Punjab, der einst für seinen Überfluss an Wasser bekannt war. Bauern und andere Landbewohner gehen pleite, weil ihr Geld nicht reicht für das Wasser, das sie zu Wucherpreisen aus anderen Gegenden kaufen müssen. Manche von ihnen nehmen sich das Leben, wenn die von ihnen angepflanzten Früchte vertrocknen und ihre Schulden in die Höhe schießen. Laut WaterAid Indien, dem indischen Arm der internationalen Wohlfahrtsorganisation, herrscht auch in den Bundesstaaten Tamil Nadu und Karnataka Wasserstress.

„Indien gehört weltweit zu den Ländern mit dem schlimmsten Wassermangel, von seinen tiefsten Wasserschichten bis zu seinen größten Flüssen“, sagt Puneet Srivastava von WaterAid. „Grundwasserspiegel fallen, weil Bauern, Stadtbewohner und Industrieunternehmen mit ihrem Verbrauch Brunnen und Bewässerungssysteme trockenlegen. Das noch verfügbare Wasser ist stark verschmutzt. Und die Zukunft dürfte noch schlimmer werden. 2030 sollen die nationalen Wasservorräte um 50 Prozent unter der Nachfrage liegen, so hat es das McKinsey Global Institute festgestellt.“

Verschmutzes Wasser führt zu Missbildungen der Haut.

Die Lage (2)

Wasserverschmutzung

Wasser an sich ist also schon Mangelware – doch auch das vorhandene ist kein gesundes Trinkwasser.

80 Prozent des Oberflächenwassers in Indien sind verschmutzt – und wiederum 80 Prozent der Verschmutzung stammen aus Haushaltsabwässern. Jedes Jahr sterben hier 140.000 Kinder an Durchfallerkrankungen, nachdem sie verschmutztes Wasser genutzt haben, so WaterAid.

Laut UNICEF sind 20 Verwaltungsbezirke in Indiens bevölkerungsreichstem Bundesstaat Uttar Pradesh mit Arsen verseucht. Im Osten des Bundesstaats, einschließlich der Hauptstadt Lucknow, liegt der Arsenanteil im Grundwasser 20- bis 60-mal höher als die zugelassene Höchstgrenze. Die Folgen sieht man hier bei vielen Bewohnern, etwa bei Ramesh Yadav, 40 Jahre alt: Die Haut seiner Handfläche ist voller Missbildungen, die von einer schweren Arsenvergiftung zeugen.

In anderen Teilen Indiens sieht es nicht viel besser aus. Indiens Zentralbehörde für die Kontrolle von Umweltverschmutzung kalkuliert: Die wichtigsten Städte erzeugen täglich 38 Milliarden Liter Abwasser. Nur 30 Prozent davon fließen zurück in die Kanalisation. Von diesen wiederum werden weniger als 20 Prozent geklärt. Der Rest läuft schmutzig in Flüsse, Seen und Teiche. Der heilige Fluss Ganges ist wortwörtlich zu einem stinkenden Fluss geworden. Der Mangel an frischem Quellwasser erhöht den Verschmutzungsgrad noch. Hinzu kommt der Dünger aus der Landwirtschaft.

Prozent dieser Abwässer fließen zurück in die Kanalisation, davon wiederum werden 20 Prozent geklärt – lediglich.

NGOs helfen Kindern – mit sauberem Trinkwasser.

Die Ursachen

Wachstum und Verschwendung

Indiens Wasserkrise hat viel mit der rasanten Industrialisierung zu tun. Aber auch damit, dass die Ressourcen nicht oder nicht konsequent genutzt werden.

„Es gibt mehrere Faktoren, die zu dieser Krise geführt haben“, sagt Ayyappa Masagi. „Einer davon: Regenwasser wird bei uns nicht zu den wichtigen Wasserquellen gezählt.“ Masagi ist in Indien als „Wasserkrieger“ bekannt. Er hat die Water Literacy Foundation und die Firma Rain Water Concepts gegründet. „Etwa 97 Prozent des Regenwassers fließen einfach so in die Ozeane.“ Als weitere Ursache der Krise nennt er den verschwenderischen Umgang mit Wasser. „Wir behandeln es wie ein Verbrauchsgut und nicht wie eine Ressource.“ Dies führe etwa zu einer exzessiven Abholzung.

Prozent des Regenwassers fließen ungenutzt in die Ozeane, sagen Indiens „Wasserkrieger“.

T Raghavendra Rao, Gründer und Vorstandsvorsitzender des Unternehmens Sustainable Technologies & Environmental Projects (STEPS), fügt hinzu: Während die absolute Menge des Wassers auf der Erde relativ konstant bleibe, führten Bevölkerungswachstum, ungleiche Wasserverteilung aus geografischen Gründen, Umweltverschmutzung und Klimawandel zu dem Mangel. „Auch wirkt sich Indiens schnelle Industrialisierung aus. Lebensmittelhersteller, Kraftwerke, Textil- und Papierunternehmen brauchen große Mengen Wasser, das dann der Bevölkerung und der Landwirtschaft fehlt.“ Indien verfügt über nur vier Prozent der Wasserressourcen der Erde, doch dort leben 16 Prozent der Erdbevölkerung.

„Wassermutter“ Amla Ruia legt in Dörfern Rückhaltedämme an.

„Wassermann“ Rajendra Singh erklärt, wie man Dämme baut.

Die Lösungen

Hightech und Schlamm

"Es besteht Hoffnung", meint Rao. Indien habe gute Voraussetzungen durch den Himalaya und den Monsunregen.

Aber er warnt: „Wir kommen aus den Schwierigkeiten nur heraus, wenn wir den Wasserverbrauch der Industrie senken, ohne die Produktion zu mindern, den Wasserverbrauch der Landwirtschaft senken, ohne die Ernte zu verkleinern – kurzum: wir müssen das Wasser recyceln sowie die starke Verdunstung und Verschmutzung in den Wasserspeichern stoppen.“

Daran wird bereits gearbeitet. WaterAid ist gemeinsam mit dem Wasserprogramm der Bank HSBC dabei, die Versorgung mit sauberem Wasser zu verbessern. In Dörfern des Bundesstaats Uttar Pradesh, wo die Verschmutzung besonders hoch ist, testen Mitarbeiter des Projekts das Wasser auf seine Qualität und bauen Filter gegen Arsen ein. Ramesh Yadav, der Mann mit den schweren Hautschäden an der Hand, holt nun Wasser von einem Brunnen mit solch einem Filter. Projektkoordinatoren wie Anand Singh gehen sogar in Privathäuser, um Qualitätstests durchzuführen.

In Uttar Pradesh sieht man jetzt Kinder, die sauberes Wasser in Eimern tragen. WaterAid hat gemeinsam mit der Partnerorganisation Shramik Bharti Handpumpen in einem Gemeinwesen der Stadt Kanpur repariert. Doch immer noch brauchen die Einwohner mehrere Stunden, um ein paar Eimer Wasser zu bekommen. Oft gehen die Kinder mehrmals mit schweren Eimern hin und her.

„Wasserkrieger“ Ayyappa Masagi versucht mit seiner Water Literacy Foundation und seiner Firma Rain Water Concepts, das Gleichgewicht des Wasserkreislaufs wiederherzustellen, indem er Wissen über Wasser verbreitet und effektive und nachhaltige Methoden der Wassernutzung entwickelt. „Wenn wir nur 30 oder 40 Prozent des verfügbaren Regenwassers nutzbar machen, können wir die Wasserkrise überwinden, die uns plagt“, sagt er. Inder, die seinen Ideen folgen, schaufeln Gruben aus und sammeln darin Regenwasser für die unmittelbare Nutzung, filtern es und bewahren es auf.

Prozent der Weltbevölkerung leben in Indien, doch das Land verfügt nur über vier Prozent der Wasserressourcen der Erde.

„Wasserkrieger“ Ayyappa Masagi lehrt Wissen über Wassernutzung.

Was zu viel ist, leiten sie in Bohrlöcher und füllen so das Grundwasser wieder. Solche scheinbar einfachen Lösungen bringen seiner Ansicht nach mehr als Megaprojekte wie Staudämme oder Flussumleitungen. „Wir haben Hunderte von Erfolgsstorys, von privaten Häusern und Apartments bis zu Bauernhöfen und Industrieunternehmen – sie gehen dem Rest des Landes mit gutem Beispiel voran.“

Das ehrgeizige Ziel des „Wasserkriegers“: eine effiziente Wassernutzung in Indien bis zum Jahr 2020. Obwohl das Land davon noch weit entfernt ist, strahlt Masagi Selbstsicherheit aus, will mit einer solchen Vision die Menschen begeistern.

Ein anderer Visionär ist Rajendra Singh, genannt der „Wassermann von Indien“. 2015 wurde er mit dem Stockholmer Wasserpreis ausgezeichnet. Er arbeitet mit Dorfbewohnern im Bundesstaat Rajasthan, baut mit ihnen Schlammdämme, die dazu führen, dass sich das Regenwasser in künstlichen Teichen, genannt Johads, sammelt. Eine traditionelle Technik. In dem Bundesstaat gibt es bereits 8.000 Johads, die 1.000 Dörfer mit Wasser versorgen.

Ebenfalls in Rajasthan wirkt Amla Ruia, bekannt als die „Wassermutter von Indien“. Sie hat in dem Bundesstaat über 100 Dörfer umgestaltet mit traditionellen Techniken zur Speicherung von Wasser und Rückhaltedämmen, genannt Khadins. Bevor sie mit ihrer Hilfsorganisation Aakar Charitable Trust dort aktiv wurde, waren diese Dörfer ausgedörrt. Als Rückhaltedämme bauen die Bewohner kleine Gemäuer und häufen Erde auf. Das kostet wenig und ist sehr effektiv, besonders in hügeligem Gelände.

Neben dieser Rückbesinnung auf uralte Techniken steht das Recycling von gebrauchtem Wasser mit ganz neuen Methoden. Dazu hat Rao mit seinem Unternehmen STEPS Lösungen für biologische Abwasserbehandlung entwickelt, die vor allem in Apartmentkomplexen der Mittelschicht und in Fabriken genutzt werden. Abwässer lassen sich wiederverwenden, nachdem man sie mit seiner Technik für Nano-Oxidation gereinigt hat. Dabei werden Biofilmträger, also Bakterienträger, eingesetzt. Andere Techniken helfen bei der Gewässerreinigung, Sie nutzen natürliche Produkte zusammen mit Schallfrequenzgeneratoren, die Algen und Pflanzengifte zerstören. „Diese nicht chemische Methode verbessert die Wasserqualität gewaltig“, sagt Rao. „Als weitere Methoden nutzen wir schnelles Ausflocken und schnelle Oxidation.“ Um industrielle Abwässer zu behandeln, werden biologische und chemische Methoden sowie Oxidation kombiniert.

Dabei geht es immer auch darum, die Haltung der Bevölkerung zum Wasser zu verändern. „Behörden erreichen hier gar nichts, wenn die Öffentlichkeit nicht einbezogen ist“, betont Rao. „Solange die Leute meinen, Wasser sei gratis und unbeschränkt verfügbar, ändert sich nichts. Wasser zu bewahren und zu recyceln kostet, die Regierung muss genügend dafür ausgeben – nur so haben wir eine Zukunft.“

Usha Munshi,

Journalistin in Mumbai, lebt in einem mittelständischen Apartment-Komplex mit fließendem Wasser rund um die Uhr.