DIE MACHT DES NIL

Wohl keinem anderen Gewässer der Erde wurde so gehuldigt wie ihm. Ägypten sei ein „Geschenk des Flusses“, verkündete der griechische Reisende und Urvater des Journalismus, Herodot, der selbst bis nach Elephantine gekommen war, einer Insel im Nil. Eine Spurensuche vor Ort 2.500 Jahre später.

Träge stampft die „Mirage 1“ von den South Sinai Nile Cruises den Nil hinauf. Es ist einesdieser schwimmenden Hotels mit Ballsaal, Fitnessstudio und Juwelier. Doch oben auf dem Sonnendeck räkeln sich gerade einmal eine Handvoll kanadischer Urlauberinnen auf ihren Liegen und lassen die palmengesäumten Ufer des legendären Stroms an sich vorübergleiten. Sie nippen an ihrer Cola oder am Whisky on the rocks, der von livrierten Kellnern serviert wird, und springen dann und wann in ihren Bikinis in den Pool – es kann zu dieser Jahreszeit im Süden Ägyptens schnell über 45 Grad heiß werden.

Der Luxusdampfer ist eine Welt für sich. Gelegentlich erhaschen die Kinder am Ufer einen Blick auf die Fremden in ihren Badesachen und winken ihnen laut lachend zu, bevor sie wieder in ihren Lehmhütten verschwinden. Die werden wie schon seit einigen Tausend Jahren aus dem Schlamm des mächtigen Stroms geformt – die Errichtung fester Häuser aus Lehmziegeln markierte hier den Beginn der Zivilisation.

Kaum hinter den Häusern, den Palmen, den saftig grünen Wiesen am Ufer aber flimmert schon die Wüste mit ihrer tödlichen Weite, und man ahnt, was den sudanesischen Schriftsteller Tajjib Salich bewogen haben mag zu schreiben, „wie eine heilige Schlange altägyptischer Gottheiten“ winde sich der Nil durchs Land: „Die Brust des Nil schwillt wie eine Männerbrust im Zorn ... So weit das Auge reicht, erblickst du satt getrunkenes, glattes Land ... Ruhig und feucht liegt die Erde, aber du spürst, dass sie ein gewaltiges Mysterium birgt. Sie gleicht einer heißblütigen Frau, die sehnsüchtig nach ihrem Gatten verlangt.“ Ohne Nil würde es hier kein Leben geben.

»Herr der Fische, der die Zugvögel stromauf ziehen lässt.«

Cheti

Der Dichter pries den Nil vor 4.000 Jahren als die Grundlage allen Lebens.

5.000 Kilometer bis Ägypten

In den vergangenen Jahren hat der islamische Terrorismus dem Land arg zugesetzt. Die Kanadier an Bord des Schiffes jedoch sind unbesorgt. Sie freuen sich auf Abu Simbel und die gigantischen Ramses-Statuen – ganz im Süden Ägyptens, nur 36 Kilometer von der sudanesischen Grenze entfernt. Wie ein gigantischer Grenzposten stehen sie da zwischen Ägypten und Schwarzafrika und markieren den Beginn einer einzigartigen Zivilisation. Sie nahm vor mehr als 4.000 Jahren hier ihren Ursprung und wäre ohne den mächtigen Fluss aus dem Innern Afrikas undenkbar.

Bevor der Nil das Land der Pharaonen erreicht, hat er bereits mehr als 5.000 Kilometer zurückgelegt. Der Quellfluss des Weißen Nil, der Ruvironza, entspringt in den burundischen Bergen, im Herzen Afrikas – er mündet später in den Kagera, und der entlädt seine Wassermassen schließlich im Victoriasee. Bei Jinja in Uganda beginnt dann der eigentliche Weiße Nil seinen weiten Weg nach Norden – er durchquert am Albertsee einen Tel des Kongos und anschließend den Südsudan, bis er sich im Sudan dann bei Khartum mit dem Blauen Nil vereinigt.

Der Blaue Nil entstammt dem äthiopischen Tanasee, von dort bahnt er sich seinen Weg nach Sudan. Er ist insgesamt nur rund 1.500 Kilometer lang. Dennoch stammen die großen Wassermassen, die in Ägypten die Wüste zum Blühen bringen, zum großen Teil von den Regenfällen im abessinischen Hochland.

Römer suchten vergeblich die Quelle

„Sei gegrüßt, Nil, hervorgegangen aus der Erde“, heißt es im 4.000 Jahre alten Lobgesang des Dichters Cheti, „gekommen, um Ägypten am Leben zu erhalten! Herr der Fische, der die Zugvögel stromauf ziehen lässt, der Gerste schafft und Bohnen entstehen lässt. Fließe, Nil! Man opfert dir. Komm nach Ägypten! Auf, Verborgener! Der Menschen und Tiere am Leben erhält mit seinen Gaben des Feldes.“

Und der Schweizer Schriftsteller Georg Brunold, der ein Buch über den Wettlauf zu den Nilquellen verfasste, notierte: „Alexander der Große soll Ammon, den ägyptischen Staatsgott, nach der Quelle des Nil befragt haben. Cäsar äußerte die Bereitschaft, seinen Beruf, den Krieg, den Geheimnissen des Nil zu opfern, ließe dieser sie sich entreißen. Der Nil hatte selbst Halbgöttern und Göttern eine Abfuhr erteilt, umsonst waren Dionysos und Herkules durch das Innere Ägyptens geirrt.“

„Caput Nili quaerere“ („nach den Quellen des Nil suchen“) wurde schon bei den Römern zur Metapher für unlösbare Probleme. Jahrhundertelang behielt der Göttliche sein Geheimnis für sich. Die großen Forscher Stanley und Livingstone, Bruce und Burton – sie alle scheiterten an ihm. Ausgerechnet der streberhafte Brite John Hanning Speke entdeckte schließlich, dass der Nil bei Jinja dem Victoriasee entsprang.

Gänzlich zur Raison brachte ihn schließlich Gamal Abdel Nasser, der Offizier und damalige ägyptische Staatspräsident. Mit der Idee von der Schaffung eines panarabischen Staates zwischen Atlantik und Persischem Golf scheiterte er kläglich. Mit dem Bau eines Hochdamms bei Assuan aber zähmte er den Nil. 1960 wurde mit den Bauarbeiten begonnen, nubische Dörfer und alte Tempel versanken in den Fluten, 100.000 Menschen wurden umgesiedelt. Und die Sowjets halfen kräftig mit. 3.800 Meter lang ist das Bollwerk geworden, 111 Meter hoch, und es staut das Wasser des Nil zu einem 500 Kilometer langen See – bis tief hinein in den Sudan.

Staaten streiten um Staudämme

War Nassers Werk, den mächtigen Fluss so zu zähmen, dass er am Ende nur noch wie ein träger Kanal dahinfließt, ein Sakrileg? Ein Resultat seines Größenwahns? Keineswegs, findet der Wasserexperte Mohamed Nasr Eldin Allam von der Universität Kairo. Nassers Tat sei ein Segen für das Land gewesen. „Wenn früher kein Wasser kam, litt die Landwirtschaft. In solchen Krisen haben die Menschen sich sprichwörtlich gegenseitig aufgegessen. Sie konnten nichts pflanzen, nichts ernten, sie gruben verzweifelt nach Grundwasser. Erst mit dem Assuan-Staudamm hat sich das grundlegend geändert. Klar: Der Nil wurde plötzlich wie ein Kanal. Aber man kann den Wasserstand jetzt kontrollieren. Wir haben einen kontrollierten Fluss und sind nicht mehr komplett von den Regenfällen in Äthiopien abhängig.“

Eldin Allam hat mitten im Zentrum Kairos sein Büro. Neben seinen Verpflichtungen an der Hochschule ist er auch als Berater tätig und erstellt Gutachten. Er weiß genau, wie wichtig das Wasser für Ägypten ist, und er blickt mit Sorge nach Äthiopien, wo seit 2011 hektische Betriebsamkeit herrscht und die Grand-Renaissance-Talsperre entsteht. Das Megaprojekt macht dem Assuan-Staudamm Konkurrenz und wird auch „Großer Damm der äthiopischen Wiedergeburt“ genannt.

Wenn der Damm demnächst fertiggestellt ist, soll er aus einer 145 Meter hohen und 1.800 Meter langen Walzbetonmauer bestehen und rund fünf Milliarden $ gekostet haben. Für Ägypten stelle der Damm eine große Gefahr dar, ist sich Allam sicher, zudem sei er unnötig: „Die Äthiopier haben sehr heftige Regenfälle über dem Nilbecken, sie reichen von 900 Millimeter im Jahr bis zu über 2.200 Millimeter pro Jahr in bestimmten Gegenden. In Ägypten hingegen haben wir 20 Millimeter, das ist so gut wie nichts, wir trocknen förmlich aus.“ Der Experte gibt zu bedenken: „Mehr als anderthalb Jahre lang müsste das Wasser des Blauen Nil, das sonst in den Sudan und dann nach Ägypten fließt, abgezweigt werden, um den Damm zu füllen.“

2013 hatte die ägyptische Regierung noch mit Krieg gedroht, falls Äthiopien seine Dammpläne nicht begräbt. Im Moment haben sich die Regierungen in Kairo und Addis Abeba aber gemeinsam mit den Kollegen in Khartum verständigt. Bislang berief sich Kairo immer auf Abkommen, die Ägypten und dem Sudan 87 Prozent des Nilwassers garantierten. Die Verträge stammen aus den Jahren 1929 und 1959 und sichern Kairo auch ein Vetorecht zu, wenn es um den Bau neuer Dämme geht. Nun scheint Präsident Abd al-Fattah al-Sisi nachgegeben zu haben: Ägypten könnte durch die Stromerzeugung der Äthiopier sogar Nutznießer des neuen Damms sein.

Richtig beruhigt wirkt Mohamed Nasr Eldin Allam aber nicht. „Ein Damm in Äthiopien bedeutet die Kontrolle über das Wasser, und die Kontrolle über das Wasser bedeutet Macht.“ Kein Fluss der Erde hat das so deutlich gezeigt wie der Nil, der die erste Hochkultur der Menschheit ermöglicht hat. Versiegt er aber, erlischt auch alles Leben.

Thilo Thielke

war als langjähriger Afrikakorrespondent des Spiegel meist im Quellgebiet des Nil unterwegs – rund um den Victoriasee. Nun hat er sich einen Traum erfüllt und folgte dem Verlauf des Flusses drei Wochen lang in Ägypten: von Abu Simbel bis zum Delta.