In Rotterdam wird am Hafen der Zukunft gebaut. Ein Beispiel dafür sind die „schwimmenden Pavillons“.

WASSERLABOR ORANJE

Ein Viertel der Niederlande liegt unterhalb des Meeresspiegels. Die Bewohner haben gelernt, den Naturgewalten zu trotzen – und Fluten und Stürme sogar nutzbar zu machen. In Zeiten von Klimawandel und Umweltbelastungen hat das Land nun erneut eine Führungsrolle übernommen. Überall blühen Projekte, die Wasser als Teil einer neuen Lebensqualität begreifen.

Ramon Knoester hält einen Beutel hoch. Den Inhalt würde jedes Kind sofort gern ausschütten und damit spielen: blaue, rote, weiße und graue Steinchen, kunterbunt gemixt und alle verschieden geformt. Sie sind aus Plastik. Für den Architekten mit Büro in der Nähe des Hauptbahnhofs von Rotterdam sind sie derzeit das wichtigste Material. Denn die kleinen Partikel werden zu einer festen dunklen Masse weiterverarbeitet, um daraus Fundamente zu fertigen. Diese sollen dann später, überwuchert von Pflanzen, im Wasser schwimmen. „Mein fünfjähriger Sohn hat in der Kita voller Stolz erzählt, dass sein Vater Plastikinseln baut“, sagt Knoester mit breitem Lächeln.

Landgewinnung aus recyceltem Wohlstandsmüll. Das ist eine neue Dimension für die Niederländer, die schon immer sehr einfallsreich darin waren, aus ihrer besonderen Lage Potenzial zu ziehen.

Im weitläufigen Wasserbecken von Europas größtem Seehafen mit seiner modernen Wolkenkratzer-Skyline sind es Menschen wie Ramon Knoester, die dessen Zukunft im Blick haben. Der Gründer des Architektenbüros WHIM arbeitet seit vier Jahren vornehmlich im Rotterdamer Hafendelta, wo die Flüsse Rhein, Maas und Schelde münden. Und mit ihnen Tonnen von Plastikmüll aus ganz Europa. Die möchte Knoester einsammeln, bevor sie ins offene Meer hinaustreiben. Dafür wurden erste Filteranlagen installiert: „Als Architekt sehe ich mich in einer gesellschaftlichen Verantwortung. Es geht darum, mit dem Rohstoff Altplastik nachhaltige bauliche Lösungen auf dem Wasser umzusetzen.“

»Wir wollen das Plastik im Meer reduzieren und es für nachhaltige bauliche Lösungen auf dem Wasser nutzen.«

Ramon Knoester:

Der Architekt (Büro WHIM) gründete den Recycled Park und lässt das Konzept im Hafen von Rotterdam testen.

Module aus Altplastik und Pflanzen: Der Architekt Ramon Knoester baut einen Recycled Park.

Grün-blaues Experimentierfeld

Das Projekt hat bereits Form angenommen. Am Wilhelminapier liegen die Floating Pavillons – drei Kuppeln auf schwimmendem Untergrund, die wie Raumstationen anmuten. Vor 100 Jahren legten von der Halbinsel die Ozeandampfer mit Auswanderern nach Nordamerika ab. Die Pavillons, die heute an dieser Stelle im Wasser liegen, dienen als Veranstaltungsort und Ausstellungsfläche. Sie symbolisieren den neuen Aufbruch Rotterdams. Für Knoester war es deshalb der ideale Platz, den Prototyp seines Recycled Park anzudocken. Es handelt sich um drei Module von jeweils 2,40 Meter Breite. An der rauen Unterseite finden Wasserpflanzen Halt, die obere Fläche ist mit dichten Gräsern bepflanzt. Auf weiteren bojenartigen Plattformen schaukeln Bäume wie Skulpturen im Wasser. Denkbar sind Plattformen in flexibler Größe bis zu Tausenden von Quadratmetern. Die Stadtverwaltung hat den Recycled Park jüngst in ihr städtebauliches Konzept aufgenommen, nach dem demnächst zusätzliche grüne Zonen im Hafen geschaffen werden sollen.

Das Timmerhuis: Das 14-stöckige Wohn- und Geschäftshaus, mit seinem Dachgarten Teil des nachhaltigen Wassermanagements von Rotterdam, ist auch Sitz der zuständigen Stadtentwicklungsbehörde.

»Wir begrünen Dachflächen, und gleichzeitig verändern wir den Wasserhaushalt der Stadt.«

Eveline Bronsdijk:

Die Stadtbedienstete treibt seit zehn Jahren Klimaschutzmaßnahmen in Rotterdam voran.

Rotterdam ist überall grün-blaues Experimentierfeld. Das zeigt sich auch, wenn man der Stadt aufs Dach steigt. Eveline Bronsdijk macht das fast täglich. „In den vergangenen zehn Jahren haben wir rund 250.000 Quadratmeter Dachfläche begrünt“, sagt die Angestellte der Stadtentwicklungsbehörde, zuständig für „Nachhaltigkeit und Kommunikation“. Während sie ihren Tee im Cafégarten Op Het Dak trinkt, lässt sich ein paar Meter entfernt eine Besuchergruppe die Bewässerung von Dachtomaten erklären. Der achte Stock eines Sechzigerjahre-Bürokomplexes ist eine blühende Landschaft mit Ruhezonen, Wildgarten und Beeten, gelegen zwischen Bahnhof und Rathaus. „Viele Gebäude galten als abbruchreif“, erklärt Bronsdijk, „jetzt ist hier in einem ehemaligen sozialen Brennpunkt ein ganz neues Nachbarschaftsgefühl entstanden. Und wir sammeln Regenwasser keineswegs nur zum Blumengießen.“

80 Prozent unter Meeresspiegel

Von der Dachterrasse hat man einen guten Blick auf den Water Square Benthemplein, wo Kinder spielen und Skater auf den Treppenstufen ihre Fahrkünste üben. An starken Regentagen verwandelt sich das Ganze in einen Stadtteilsee. Eine typisch niederländische Lösung: ein Regenrückhaltebecken, das die städtischen Abwasserkanäle entlastet und gleichzeitig als Ort der Kommunikation dient. In Rotterdam, nach verheerenden Bombenzerstörungen ab 1945 nahezu komplett wiederaufgebaut, hat man verinnerlicht, sich immer wieder neu zu erfinden.

Die zweitgrößte Stadt der Niederlande, in der rund 630.000 Menschen leben, liegt zu 80 Prozent unterhalb des Meeresspiegels, an manchen Stellen bis zu sechs Meter. Die Überschwemmung von Straßen wäre die zwangsläufige Folge. Zur Verhinderung hat man an der Südküste des Landes einen Schutzverbund aus Deichen, Hochwasserschleusen und Pumpen installiert. Der Klimawandel mit dem stetigen Anstieg des Meeresspiegels hat den Außendruck auf das System erhöht. Doch nicht nur das Meer, auch die größeren Mengen an Flusswasser und Regen müssen bewältigt werden. Rotterdam leistet sich eine eigene Klimaschutzbehörde, die sich im Dialog mit Wissenschaftlern, Umwelttechnikern und Architekten darum bemüht, neue Wasserkreisläufe zu gestalten.

Sturmflut 1953: Bürger pumpen ihre Keller aus.

Niederlande:

sturmerprobt und erfinderisch

Seit Jahrhunderten leben die Niederländer mit dem Wasser. Es ist eine wechselvolle Geschichte mit ständig neuen Herausforderungen.

Katastrophenalarm: Bei der stärksten Sturmflut der Neuzeit kamen 1953 im Süden der Niederlande 1.835 Menschen und mehr als 200.000 Tiere ums Leben. Als Konsequenz entwarf die Regierung den Delta-Plan für einen besseren Küstenschutz, mit dessen Umsetzung 1958 begonnen wurde.

Delta-Werke: Mit 13 Sturmflutsperren ist die Anlage an der Nordseeküste ein weltweit einzigartiges, laufend erweitertes technisches Monument; allein das Oosterscheldesperrwerk misst eine Länge von drei Kilometern. Abgeschlossen wurde das Projekt 1997 mit dem Maeslantwehr in der Provinz Zuid-Holland.

Zukunft: Auch nach Vollendung der Küstenanlagen investiert die staatliche Delta-Kommission jährlich weiter 1,2 Milliarden € in Forschungsprojekte und Maßnahmen zum Hochwasserschutz.

Eine gerade gebaute schwimmende Siedlung in Dordrecht, konzipiert vom Architektenbüro Waterstudio.

Gebäude schwimmem im Wasser

„Jahrzehntelang haben wir alles dafür getan, das Wasser fernzuhalten, wir müssen nun lernen, es mehr für uns zu nutzen“, sagt Koen Olthuis vom Waterstudio im nahe gelegenen Rijswijk. Er ist Architekt, aber wie viele seiner Kollegen arbeitet auch er interdisziplinär, und sieht sich als Visionär„ schwimmender Städte“. Was er damit meint, kann man im neu entstandenen Stadtteil IJburg, öst- lich von Amsterdam, besichtigen. Dort, im Ijsselmeer, realisierte das Team von Olthuis das Waterwoningen-Projekt, eine Siedlung aus rund 60 Objekten, vom Bungalow bis zum dreigeschossigen Mietshaus. Selbst die 18 Meter hohen Gebäude schwimmen stabil im Wasser und trotzen Stürmen von Windstärke zwölf. Vergleichbar mit einer mächtigen Bohrinsel, zeigt das Konstrukt, dass die Besiedlung des Wassers im größeren Stil möglich ist. „Holland verbindet man gern mit pittoresken Hausbooten“, sagt Olthuis, „aber wir wollen weiterdenken und neue urbane Lebensformen realisieren.“

Das Wasser nicht als Feind, sondern als natürlichen Freund sehen: Das ist ein Ansatz, der sich in der niederländischen Mentalität immer stärker durchsetzt. Koen Olthuis, der regelmäßig Expertendelegationen aus aller Welt empfängt, plädiert für ein fundamentales Umdenken. Das Wasser aus Poldern, also den eingedeichten, für das Tulpenland so charakteristischen Gebieten, müsse nicht ins Meer zurückgepumpt werden. Geflutete Flächen könnten in Zukunft besiedelt werden – mit flexiblen amphibischen Plattformen. Olthuis: „Sie passen sich dem Wasser an und wären sogar verschiebbar, sodass man sie an anderer Stelle wieder andocken könnte.“

»Wir sollten das Wasser nicht nur mit Deichen fernhalten, sondern es vor allem für neue Lebensformen nutzen.«

Koen Olthuis:

Der Leiter des Büros Waterstudio entwickelt schwimmende Elemente – zum Wohnen und Arbeiten.

Der Paradigmenwechsel vollzieht sich in den Niederlanden auf breiter Front. Behördliche Unterstützung erhalten aber nicht nur Hafenstädte. In den zurückliegenden Jahren hat sich vor allem das Bewusstsein durchgesetzt, dass das Flussnetz im Landesinneren ein maßgeblicher Teil des sensiblen Ökosystems ist. Auch hier die Erkenntnis: Landgewinnung und die Begradigung von Flussläufen haben die Gefahr von Überschwemmungen eher verstärkt – ein Problem, mit dem viele Länder kämpfen. Unter der Prämisse „Raum für die Flüsse“ legten die Niederländer bereits vor zehn Jahren ein staatliches Programm auf, dessen Auswirkungen sich nun für alle sichtbar zeigen, zum Beispiel entlang der Waal nahe der Stadt Nijmegen.

Drei Jungs spielen ausgelassen am Flussufer, auf der gegenüberliegenden Seite gehen Oma und Enkel mit dem Hund spazieren, Jogger laufen über die neu errichteten Brücken. Andrea Voskens blickt über die Waal: „Dieses Programm hat unsere Einstellung zum Fluss total geändert“, zieht sie Bilanz, „früher war hier nicht so viel los; jetzt ist ein echtes Freizeitparadies entstanden.“ Im Einzugsgebiet der 170.000 Einwohner zählenden Stadt Nijmegen ist neuerdings sogar Wassersport möglich – früher aufgrund der Strömung und des Schiffsverkehrs undenkbar.

Der Umbau der Waal, des südlichen Arms im Flussdelta des Rheins, gehörte zu insgesamt 30 landesweit durchgeführten Projekten. Architektin Voskens hat bei der Stadtverwaltung Nijmegen als Stakeholdermanagerin die Umsetzung von „Raum für die Flüsse“ vor Ort betreut. In Nijmegen macht die Waal eine 90-Grad-Kurve und verengt sich von 1.500 auf 450 Meter Breite. Ein Flaschenhals, der 1993 und 1995 zu Hochwasser und großen Überflutungen in der Stadtregion und weiter südlich gelegenen Flussgebieten führte. 250.000 Menschen mussten damals evakuiert werden. Diese Erfahrung führte zu einem Umdenken: Statt immer höhere Deiche zu bauen, sollten die Flüsse mehr Platz bekommen.

Die Waalbrücke bei Nijmegen verbindet das Festland mit einer neu geschaffenen Insel. Die Landschaft wurde umgestaltet, um die Gefahr des überlaufenden Waalflusses einzudämmen.

»Früher war am Fluss nicht viel los; jetzt ist ein echtes Freizeitparadies entstanden.«

Andrea Voskens:

Die Architektin hat für die Stadt Nijmegen die Landschaftsmaßnahme „Raum für die Flüsse“ koordiniert.

Beispiel für New York

In Nijmegen wurde dafür ein dreieinhalb Kilometer langer Seitenkanal gebaut und der ursprüngliche Deich zurückverlegt. Dadurch entstand eine Insel. Häuser, die vorher im Hochwasserüberschwemmungsgebiet lagen, stehen jetzt auf dieser Insel, 50 Häuser mussten weichen. „Als das Projekt startete, gab es viel Protest“, erinnert sich Voskens. Die Menschen im betroffenen Stadtteil Lent wollten ihre Häuser nicht verlassen oder befürchteten, dass der Grundwasserspiegel durch die Verlegung des Deichs steigen und ihre Häuser beschädigen könnte. Doch im Laufe des Projekts änderte sich die Einstellung. Alle zogen schließlich freiwillig um und opferten ihre Häuser dem Allgemeinwohl.

Lent war bis vor wenigen Jahren ein Dorf. Die wachsende Stadt Nijmegen hatte das durch die Waal vom Stadtzentrum getrennte Lent schon vor Projektbeginn als künftiges Stadtgebiet eingeplant. „Raum für die Flüsse“ war damit nicht nur ein Hochwasserschutzprojekt, sondern diente auch der Stadtentwicklung. Und die Bürger von Lent sind inzwischen stolz darauf. „Wir haben von Anfang an alle beteiligt“, sagt Andrea Voskens. Sie war stets ansprechbar, half bei vielen technischen Details und bei der Suche nach neuen Wohnungen. Auch beim letzten Gang durch die Häuser stand sie den Familien bei. „Sie verlieren ihre Vergangenheit“, war ihr dabei immer bewusst. Das trieb sie an, zufriedenstellende Lösungen für die Zukunft der Menschen zu finden. Eine Aufgabe, die der vorher technisch orientierten Architektin ein gutes Gefühl gab: „Das Beste am ganzen Projekt war, dass die Menschen mir vertraut haben.“

Dieses offene Klima und die praxisnahen Ansätze finden auch anderswo große Beachtung. Michael Kimmelmann von der New York Times ist beeindruckt von der Innovationskraft, sieht darin ein Vorbild für wasserreiche US-Metropolen wie New York oder New Orleans: „In diesem kleinen wasserdurchtränkten Land wird der Klimawandel nicht als Belastung, sondern als Chance gesehen.“ In Rotterdam erlebte der US-Reporter urbane Vielfalt auf dem Wasser; auch das neueste Projekt, das zwei Kernkompetenzen der Niederländer verbindet: Seefahrt und Landwirtschaft. Das Architekturbüro Beladon lässt im Hafen eine schwimmende Farm („Merve4Heaven“) entstehen. Auf drei Ebenen sollen dort bald Kühe grasen, ernährt von einem geschlossenen Biokreislauf aus Solarenergie, Regenwasser und Futtermitteln. „Wir bringen die Landwirtschaft in die Stadt und die frische Milch näher an den Verbraucher, sparen Transportwege und Energie“, schwärmt Beladon-Chef Peter van Wingerden. Dies sollte mit der populären Urban-Farming-Bewegung auch für ein anderes niederländisches Urprodukt möglich sein: das wassernahe Züchten der Treibhaustomate. Van Wingerden glaubt fest daran, dass sein Pilotprojekt viele Nachahmer finden wird: „Städte werden weiter wachsen, und die meisten Ballungsräume liegen an Flüssen und Gewässern. Warum sollten wir das nicht nutzen?“

Ursula Jäger,

Managing Editor des Evonik-Mitarbeitermagazins Folio, hat die niederländische Küste schon einige Male bereist.

Uwe Killing,

Berliner Journalist, träumte früher von einem Hippie-Hausboot und nahm jetzt in Rotterdam Abschied von Klischees.