Huang Majian, 105, ist für Touristen eine Sehenswürdigkeit. Bei den vielen Fotos kann sie sich ein Gähnen nicht verkneifen.

Attraktion Alter

Attraktion Alter

In der ländlichen Gegend Bama in Südchina leben viele Bewohner länger als 100 Jahre. Jetzt ziehen Menschen aus der ganzen Welt dorthin, weil sie sich davon Heilung erhoffen.

Die 105-Jährige hält einen roten Briefumschlag voller Geldscheine in der Hand und hebt ihren Daumen. Als die Kamera klickt, muss sie gähnen. Doch dann lächelt sie und sagt zu dem Besucher: „Lassen Sie uns noch ein gemeinsames Foto machen!“ Der Fotograf achtet darauf, dass das Flachrelief im Hintergrund mit dem Schriftzeichen für „langes Leben“ gut zu sehen ist. Er ist der Enkel der Alten. Für Fotos mit ihr zahlen die Touristen Geld, das sie, wie es in China Tradition ist, in einem „Hongbao“, einem roten Umschlag, überreichen.

Huang Majian ist die Jüngste unter den drei offiziell anerkannten Hundertjährigen im Dorf Bapan. Es gehört zum Landkreis Bama in der südchinesischen Provinz Guangxi. Seit Jahrhunderten ist die Gegend dafür bekannt, dass ihre Bewohner besonders alt werden. Die örtlichen regierungseigenen Medien sprechen von 81 Hundertjährigen unter den 300.000 Einwohnern des Landkreises.

König der chinesischen Medizin

Als Huang Majian geboren wurde, war gerade der letzte Kaiser von China gestürzt worden. Von ihrem abgelegenen Dorf aus erlebte sie den Zerfall des Landes, die Invasion der Japaner, den Bürgerkrieg, Maos Kulturrevolution, Deng Xiaopings wirtschaftliche Reformen, Chinas Boom ab den 1990er-Jahren und die Rückkehr des Landes auf die Weltbühne. Doch dramatisch wurde ihr Leben ab dem hundertsten Geburtstag. Denn seither steht ihr Name auf einem roten Spruchband am Eingang des Dorfs, unter dem lärmende Touristenhorden einziehen.

„An was in Ihrem Leben erinnern Sie sich am liebsten?“, frage ich die 113-jährige Huang Makun, die älteste Bewohnerin des Dorfs, die so abgelegen wohnt, dass die Touristen meist nicht bis zu ihr durchkommen. Ihre Augen leuchten auf. „Volkslieder singen mit meinem Geliebten, als ich jung war“, murmelt sie in ihrem örtlichen Dialekt, den man Yao nennt. Mandarin hat sie nie gelernt.

Im elften Stock des Hotels, das natürlich „Langes Leben“ heißt, weckt mich morgens früh das Piepen der Kräne von der Baustelle nebenan, dort wird das nächste Hotel hochgezogen. Der universelle Wunsch nach Unsterblichkeit führt dazu, dass dieses Dorf der Langlebigen Touristen, Kranke und Senioren anzieht, die sich vom Aufenthalt eine Verlängerung ihres eigenen Lebens erhoffen. Das lange Leben ist hier zum wichtigsten Wirtschaftszweig geworden. Das Wort „langes Leben“ ist auf die Gullydeckel gegossen, in die Keramikfliesen von Hauswänden eingeritzt und steht auch auf den Masten der Straßenlaternen.

Überall hängen Bilder von Hundertjährigen. Auf der Plakatwand vor einer Neubausiedlung bewirbt ein eleganter alter Mann mit weißem Bart Eigentumswohnungen. Im gerade eröffneten „Museum für langes Leben“ hängen Porträtfotos alter Einwohner an den Wänden. Dazwischen prangt ein Bild von Sun Simiao, bekannt als „König der chinesischen Medizin“, der im sechsten und siebten Jahrhundert nach Christi Geburt lebte und schon damals 101 Jahre alt wurde, nach manchen Quellen sogar 141 Jahre alt. Er schrieb das Buch „Verschreibungen, die tausend Goldstücke wert sind“, das Rezepte für gesunde Getränke ebenso enthält wie Ratschläge zur Sexualität.

Tradition: Hinterbliebene bringen den Toten Papierblumen und Schnaps.

Mineralien im Wasser

Vor einem Jahrzehnt begann die Lokalregierung hier, den Wirtschaftszweig langes Leben zu entwickeln. Inzwischen besuchen jedes Jahr mehrere Millionen Gesundheitstouristen die Bama-Gegend. Einige der Besucher kommen in Reisegruppen. Sie springen schnell aus dem Bus, drängen sich in das Haus eines Hundertjährigen und kaufen im Souvenirladen Cannabis-Öl, eine örtliche Delikatesse, die angeblich zum täglichen Speiseplan der Hundertjährigen gehört. Fragt man diese selbst, verraten sie, dass sie das selbst gar nicht einnehmen, das sei nur eine Behauptung zur Verkaufsförderung. Andere Besucher bleiben für Monate, sogar Jahre. Sie hoffen, dass in diesem Dorf ihr zweites Leben beginnt. Die meisten wohnen in dem Ort Poyue, einst ein Dorf mit ein paar Hundert Einwohnern, jetzt Heim von an die 150.000 Altersmigranten.

„Im April beginnt die Nebensaison, einige Leute aus dem Nordosten gehen nach Hause, weil es dann dort wärmer wird“, sagt Dong Chengman, ein 82-jähriger Bauer, der eine altmodische Brille trägt. Er wohnt hier seit vier Monaten. Sein Freund Dong Haiyan, der gerade zum zweiten Mal am Herz operiert wurde, hat sich entschieden, länger zu bleiben. Beide kommen aus der nordwestchinesischen Provinz Qinghai. Ich treffe sie an der Höhle Baimo – das heißt übersetzt „100 Teufel“. „Jeden Tag wandern wir zu dieser Höhle und setzen uns ein bisschen hin. Für mich ist es Urlaub, aber für ihn ist es ein Sanatorium“, sagt Dong Chengman.

Auf dem anderthalb Kilometer langen Weg von Poyue zur Höhle betätigen sich Menschen, die ein langes Leben suchen, auf unterschiedlichste Weise. Zwei Pekinger spielen zusammen Saxofon. Der eine arbeitet als IT-Unternehmer, bezeichnet sich selbst als „Smogflüchtling“. Der andere ist ein führender Militär, der schon mehrere Schlaganfälle erlitten hat. Eine ganz in Weiß gekleidete Frau ruft in die Berge und lauscht dem Echo. Ein Mann aus der Metropole Chongqing fischt.

Mittlerweile kommen Menschen nicht nur aus China, sondern auch aus anderen Ländern. Kingso Monago ist ein Kaufmann aus England, er spielt in einem Bambushain auf seinem Handy. Er verbringt hier seinen Urlaub und sagt, die magischen Geschichten, die ihm hier erzählt werden, würden ihn verwirren.

Ein 89-Jähriger aus Singapur zieht in einem Overall aus Jeansstoff durch die Straßen, die Hände in den Taschen. „Als ich vor sieben Jahren kam, konnte ich kaum gehen“, sagt er. „Aber nun ist mein Diabetes verschwunden, und ich bin gesund.“ Herr Chen möchte seinen Vornamen nicht nennen, Grund: „Ich verschweige meinen Ärzten in Singapur und Hongkong, dass ich hier lebe, sie würden mich auslachen.“ Doch die Mineralien im Wasser hier und die „geomagnetischen Felder“ würden wirken. „Jedes Mal, wenn ich nach Singapur gehe, rufen mich die 100 Teufel zurück“, sagt Chen, wobei er auf den Namen der Höhle anspielt.

Wissenschaftler erforschen das Phänomen

Nicht allen Einheimischen gefällt der Ruhm ihrer Gegend. Huang Majia ist 99 Jahre alt, also auch ein Beispiel für die hohe Lebenserwartung hier. Sie profitiert unmittelbar von den Touristen, denn sie verkauft am Eingang der Höhle Gurken und Süßkartoffeln. Doch sie sagt: „Wir waren ein ruhiger und unberührter Ort, niemand warf Müll auf den Boden, niemand erkrankte.“ Ihrer Meinung nach zerstören die Einwanderer und Touristen genau das, weshalb sie kommen: „In der nächsten Generation wird es hier keine Hundertjährigen mehr geben.“

Es kann gut sein, dass sie mit ihrer Einschätzung recht behalten wird. Yang Ze, stellvertretender Direktor des Instituts für Gerontologie am Beijing Hospital, erforscht das Phänomen Bama seit zehn Jahren. Zusammen mit seinen Mitarbeitern ist er immer wieder hierhergereist. Sie führten tief gehende Interviews mit 212 über 90-Jährigen, befragten sie zu ihrem Lebensstil, ihrer Ernährung und ihrer Familiengeschichte. Das überraschende Ergebnis: Der Hauptgrund für das lange Leben liegt hier in der natürlichen Selektion. Die Gegend ist abgelegen und reich an Bergen. Früher brauchte man drei Tage, um dorthin zu kommen. „Unter harten Bedingungen und ohne medizinische Versorgung starben die Schwachen aus, während diejenigen mit guten Genen überlebten“, sagt der Wissenschaftler. Er bestreitet nicht den Einfluss einer günstigen natürlichen Umgebung, der Wälder, der Ionen in der Luft, der Mineralien im Wasser und des Sonnenscheins mit weniger Ultraviolettstrahlung als anderswo. „Aber ich glaube, dass die Rolle dieser Faktoren überschätzt wird.“ Und kommt zum gleichen Schluss wie die Gurkenhändlerin: „Wenn Touristen in Scharen hierherströmen, wird das Phänomen bald verschwinden.“

In Bama haben die Dorfverwaltungen jetzt Schilder aufgestellt, die Bauern den Anbau von Früchten verbieten, da die Felder als Baugrund für Luxushotels verpachtet wurden. Das Hämmern und Bohren stört die Ruhe des einstigen Idylls. In Bapan sind im vorigen Jahr fünf der bis dahin acht Hundertjährigen gestorben.

Zhu Yinghao

arbeitet für National Geographic und GQ, stammt aus einer chinesischen Arztfamilie. Zu Hause wurde oft darüber gesprochen, wie man ein langes Leben erreicht.

Dörfer der Hundertjährigen

Bama in China ist einer von mehreren Orten mit überdurchschnittlich vielen Hundertjährigen. Alle haben gemeinsam: sie liegen weit abgelegen und hatten bis vor Kurzem wenig Austausch mit der Außenwelt.

Vilcabamba, Ecuador

Ein Tal im südlichen Ecuador. Als Faktoren werden genannt: Das Trinkwasser aus den Füssen Yamburara und Chamba ist voll von wertvollen Mineralstoffen. Die Dorfbewohner essen vor allem naürliche Nahrungsmittel, die sie selbst geerntet haben, ohne Pestizide oder sonstige Zusatzstoffe.

Ogimi, Japan

Das Dorf im Norden der südjapanischen Inselgruppe Okinawa liegt weitab vom hektischen Leben in den Metropolen. Auf 3200 Einwohner kommen in Ogimi 13 Frauen, die über 100 Jahre alt sind. Die Ernährungsweise soll dem traditionellen Prinzip „Hara hachi bu“ folgen: Man hört mit dem Essen auf, wenn der Magen ungefähr zu 80 Prozent gefüllt ist.

Ikaria, Griechenland

Auf der kargen griechischen Insel ist der Anteil der über 90-Jährigen zehnmal so hoch wie im europäischen Durchschnitt. Die Schluchten und Berge verlangen den Einwohnern einiges ab und halten sie auch im Alter noch fit. Zum Entspannen trinken Einheimische einen traditionellen Tee aus Kräutern, deren hoher Gehalt an Antioxidantien stressmindernd wirken soll.

Nicoya-Halbinsel, Costa Rica

Auf der Halbinsel werden die meisten Einwohner älter als 90 Jahre. Das Trinkwasser hat einen besonders hohen Anteil an Calcium und Magnesium. Dieses „harte Wasser“ soll Herzkrankheiten vorbeugen und den Knochenbau fördern.

Campodimele, Italien

Ganze dreißig Jahre älter als der Durchschnittsitaliener werden die Menschen in dem kleinen Bauerndorf im Mittelgebirge der Region Latium. Von den 800 Bewohnern sind 42 über 90 Jahre alt, und einige zählen bereits 100 Jahre. Die Bewohner bauen ihre Nahrung selbst an. Es kommt nur wenig Fleisch auf den Teller, stattdessen viel Gemüse und selbst gebackenes Brot aus Maismehl. Der hohe Verbrauch an Olivenöl soll zusätzlich das Risiko für Herz- und Gefäßerkrankungen mindern.