LÄNDER IM RENTEN- CHECK

Manche Länder altern schneller, manche langsamer. Entsprechend groß sind die Unterschiede: Wann geht man in Rente? Arbeiten die Rentner weiter? Welche Änderungen am System werden diskutiert? Wird Senioren großer Respekt erwiesen, oder werden sie eher gering geschätzt? Genießen sie besondere Privilegien? Ein Vergleich von fünf Ländern, die für die Vielfalt dieser Welt stehen.

USA:

Länger aktiv

Finanzielle Sorgen und Angst vor Langeweile halten Amerikas Senioren im Arbeitsleben

Wer schon einmal beim amerikanischen Discounter Costco eingekauft hat, kennt die freundlichen Senioren, die am Eingang den Mitgliedsausweis kontrollieren und sicherstellen, dass niemand mit unbezahlter Ware das Weite sucht. Für das Engagement der rüstigen Angestellten gibt es einen einfachen Grund: Die meisten US-Bürger haben nicht ausreichend fürs Alter vorgesorgt. Der durchschnittliche US-Haushalt verfügt über weniger als 100.000 $ an Sparguthaben. Senioren arbeiten deshalb auch nach der offiziellen „Rente“ weiter, um ein Zubrot zu verdienen und — was noch wichtiger ist — eine vernünftige Krankenversicherung zu haben. Generell gehen Amerikaner heute später in Rente als in der Vergangenheit, und auch danach legen sie keineswegs die Hände in den Schoß, sondern arbeiten in Teilzeit weiter, etwa als Chauffeure für Fahrvermittlungsdienste wie Uber oder Lyft.

Grundlage der US-Altersversorgung ist das Social Security System, das als Folge der Großen Depression 1935 geschaffen wurde. Wer beschäftigt ist, zahlt — auch als Selbstständiger — einkommensabhängig in dieses System ein und kann im Alter eine monatliche Grundsicherung beziehen. Aus dieser Quelle speist sich für 42 Prozent aller US-Bürger die Rente. Das Alter, ab dem US-Arbeitnehmer ihre volle öffentliche Rente anfordern können, ist in jüngster Zeit von 65 auf 66 Jahre angehoben worden und wird in den nächsten Jahren weiter steigen. Theoretisch kann man auf sein Erspartes bereits ab dem 62. Geburtstag zugreifen, aber man müsste dann laut der Rentenbehörde Social Security Administration auf rund 26 Prozent der monatlichen Bezüge verzichten. Es lohnt sich also, länger zu warten.

Eine feste Pension des Arbeitgebers ist zur Seltenheit geworden. Nach Erhebungen des LIMRA Secure Retirement Institute aus dem Jahr 2016 bezieht ein Großteil der über 75-Jährigen eine Pension. Doch wer heute 34 oder jünger ist, wird auf diese Form der Altersversorgung nicht mehr zählen können. Was auch damit zu tun hat, dass immer weniger Menschen ein langes Beschäftigungsverhältnis mit einem festen Arbeitgeber eingehen. Als Konsequenz daraus gehen US-Arbeitnehmer später in den Ruhestand. Von 2014 bis 2022 wird sich der Anteil der Männer und Frauen, die nach dem 65. Geburtstag weiterarbeiten, von 23 auf 27 Prozent beziehungsweise von 15 auf 20 Prozent erhöhen, so die Forscher des Population Reference Bureau. Fünf Prozent der US-Bürger befürchten sogar, dass sie aus finanziellen Gründen nie komplett in den Ruhestand werden treten können.

Das Phänomen der rastlosen Senioren ist auch Teil des amerikanischen Selbstverständnisses, immer wieder einen Neuanfang zu wagen und nie zum alten Eisen gehören zu wollen. „In den Ruhestand zu gehen ist heutzutage keine saubere Zäsur, sondern ein dynamischer Prozess, bei dem sich Menschen neu erfinden und mehrere Phasen durchlaufen“, erklärt Richard Wald, der die Sparte Vermögensverwaltung bei der Bank Merrill Lynch leitet und vor Kurzem eine Studie zum Thema vorstellte. Ein Paradebeispiel ist der ehemalige Werbemanager Harold Spielman. Nach dem Tod seiner Frau startete der Unternehmer noch einmal durch: Er schrieb ein klassisches Selbsthilfebuch mit dem Titel „Suddenly Solo“ und rief damit eine Bewegung für alleinstehende Senioren ins Leben.

Sorgen um die Bevölkerungsentwicklung müssen sich die USA allerdings nicht machen. Zwar erreichen rund 75 Millionen Babyboomer bis 2030 das Rentenalter und verändern das Antlitz Amerikas, sodass dann statistisch einer von fünf US-Bürgern als „Senior“ gelten wird. Doch wegen der hohen Geburtenrate insbesondere nichtweißer Bevölkerungsgruppen und der anhaltenden Einwanderung junger Familien droht dem Land keine dramatische Überalterung.

Aber auch Millionen unternehmungslustiger Senioren, die sich selbst als ewig jung geblieben sehen und so beworben werden, können nicht darüber hinwegtäuschen: Auf die USA kommt ein Pflegeproblem zu, wenn immer mehr Menschen im Alter chronisch erkranken und zu Pflegefällen werden. Dafür hat das im Vergleich zu anderen Industrienationen eher spartanische Sozialsystem bisher nicht vorgesorgt.

Steffan Heuer, San Francisco

Schweden Ich geh’ dann mal weiterarbeiten

Frühpension? Fehlanzeige! Schweden ist innerhalb der EU die Nummer eins, wenn es um die Einbindung älterer Menschen in den Arbeitsmarkt geht.

Auch Schweden hat mit einer alternden Gesellschaft zu kämpfen. Von den zehn Millionen Einwohnern gehören 20 Prozent zu den Altersrentnern. Bis 2050 soll sich dieser Wert verdoppeln. Diese Rechnung kann langfristig nur aufgehen, wenn die Menschen länger arbeiten. Anders als andere Industrienationen hat Schweden ein flexibles Renteneintrittsalter von 61 bis 67 Jahren eingeführt. Tatsächlich liegt das Durchschnittsalter, in dem Schweden der Fabrik oder dem Büro für immer den Rücken kehren, bei 65 Jahren – innerhalb der Europäischen Union ist das Rekord.

Hauptursachen: Einerseits versucht der schwedische Staat, seine Arbeitnehmer mit Steueranreizen möglichst lange im Berufsleben zu halten. Andererseits tut die Politik alles dafür, um es den „Golden Agern“ möglichst leicht zu machen, etwa mit beruflicher Fortbildung über das 50. Lebensjahr hinaus. „Wenngleich Schweden auch von der Alterung betroffen sein wird, sieht es deutlich besser aus als etwa in Deutschland“, sagt Ole Wintermann von der Bertelsmann-Stiftung. „Die Zahl der Erwerbstätigen wird bis 2060 kaum absinken.“

Wer in Schweden in Pension gegangen ist, kann sich in der Regel auf eine jährliche Rentenerhöhung von sieben bis acht Prozent freuen und bei Bedarf über eine günstige und vergleichsweise unbürokratische Hauspflege. Traditionell leben Schweden bis ins hohe Alter in ihrer Wohnung oder ihrem Haus. Dass mehrere Generationen unter einem Dach leben, ist eher die Ausnahme, denn das Königreich ist eines der am dünnsten besiedelten Länder der Welt. 22 Einwohner teilen sich einen Quadratkilometer (in Deutschland sind es zehnmal so viele). Das hat zur Folge, dass die Nachkommen häufig zum Studium oder für den Job in eine andere Stadt ziehen müssen.

Doch nicht alle Senioren wollen so lange am eigenen Heim festhalten, manchmal mangelt es an Plätzen im Altenheim. Darüber hinaus haben Schwedens Rentner mit einem sinkenden Ansehen zu kämpfen. Im „World Values Survey“, einer Befragung in über 100 Ländern zu Werten, liegt Schweden auf einem der hintersten Plätze, wenn es um das Image der Alten geht. Nur 0,7 Prozent der Befragten gaben an, die über 70-Jährigen genössen einen sehr hohen Status in der schwedischen Gesellschaft.

Trotzdem ist Schweden, was die Integration der Senioren angeht, ein Vorbild, so das Beratungsunternehmen PricewaterhouseCoopers Dessen Studie zum „Golden Age Index“ hat verglichen, wie ältere Menschen verschiedener Länder in den Arbeitsmarkt einbezogen sind. Dabei landete Schweden innerhalb der EU auf Platz 1, weltweit nur überflügelt von Island und Neuseeland. „Ein höherer Beschäftigungsgrad älterer Mitarbeiter wirkt sich positiv auf das Unternehmensklima und den Unternehmenserfolg aus“, heißt es in der Studie. „Wenn der Beschäftigungsanteil älterer Menschen steigt, hat das positive Gesamteffekte auf das Bruttoinlandsprodukt.“ Damit ließen sich die höheren Kosten einer alternden Gesellschaft zum Teil finanzieren.

Klaus Rathje, Berlin

Indien Jahre des Sonnenuntergangs

Während einige unabhängig und sicher sind, leiden die meisten alten Inder unter Armut, Missbrauch und Vernachlässigung.

Als er mit 65 in Rente ging, hatte Mani, inzwischen 80, Ersparnisse, Investitionen und Immobilienbesitz in einem geschäftigen Außenbezirk von Mumbai, Indiens Business-Hauptstadt. Mit seiner Frau lebt er jetzt in einer Residenz für Senioren. Für das andere Ende des Spektrums steht Jankabai, eine 65-jährige Haushaltsgehilfin. Sie schuftet weiterhin hart, auch wenn ihr Körper es manchmal nicht mehr schafft. Wenn sie irgendwann einmal aufhören wird zu arbeiten, wird sie von ihren mageren Ersparnissen abhängen, die früher oder später versiegen werden. Natürlich wohnt sie bei ihrem Sohn und seiner Familie, aber im Alter auf Verwandte angewiesen zu sein hat seine Nachteile. „Bei uns gibt es eine große Abhängigkeit der alten von der jungen Generation, besonders unter den Ärmsten“, erklärt Sheilu Srinivasan, Gründungspräsidentin der Dignity Foundation, die Senioren helfen will, in Würde zu leben. „Die Älteren unter den Armen in den Slums und in ländlichen Gebieten bekommen kaum Unterstützungszahlungen und haben keinerlei Ersparnisse.“

Indiens kulturelle Traditionen schreiben vor, die Alten mit Ehrfurcht zu behandeln. Der Familienverbund ist stark und die finanzielle Unterstützung von Angehörigen selbstverständlich. Doch mit der Verstädterung geraten diese Werte langsam ins Wanken. Und so wird es zum Problem, dass nur zwölf Prozent der arbeitenden Bevölkerung Anspruch auf eine Rente haben. Es fehlt ein umfassendes soziales Sicherungssystem für die 1,2 Milliarden Inder.

Für Beschäftigte in größeren Unternehmen existieren Fonds zur Vorsorge für das Alter. „Schlecht hingegen sieht es für Arbeiter im nicht organisierten Sektor aus“, erklärt Vish Iyer, Vizepräsident und globaler Leiter für Rechts- und Körperschaftsangelegenheiten bei den Tata Consultancy Services. „Sie sind Tagelöhner und haben keinen Spielraum, fürs Alter vorzusorgen.“ Problem: Dieser „nicht organisierte Sektor“ von Gelegenheitsarbeitern und Kleinunternehmern ist in Indien so groß wie fast nirgendwo sonst auf der Welt.

Das Problem wird etwas dadurch abgefedert, dass in den staatlichen Krankenhäusern die Behandlung kostenlos ist – für die Medikamente allerdings müssen die Patienten zahlen. „Auch gibt es etwa 5.000 kostenlose Altenheime in Indien, die gewöhnlich religiösen Gruppen gehören“, sagt Srinivasan. „Doch oft werden die Bewohner dort vernachlässigt und leiden unter der Inkompetenz von Heimleitung und Personal.“ Zwar ist der Anteil alter Menschen in Indien viel kleiner als in den reichen Industriestaaten. Aber mit Indiens rasantem Bevölkerungswachstum nimmt die absolute Zahl der Menschen über 60 zu, von 100 Millionen derzeit auf voraussichtlich 152 Millionen im Jahr 2050. Weltweit lebt jeder achte Mensch aus dieser Altersgruppe in Indien.

Für Indiens Mittelklasse sind die wirtschaftlichen Bedingungen besser; sie können beispielsweise günstige Kredite für einen Wohnungskauf bekommen und somit fürs Alter vorsorgen. Doch ihre älteren Angehörigen klagen immer oft über Missbrauch. Da die jüngeren Leute materialistischer werden, zwingen sie ihre Eltern oft, ihnen die Wohnungen zu überschreiben. „Wir haben jetzt sogar ein Notruftelefon für solche Fälle eingerichtet“, sagt die Präsidentin der Dignity Foundation, „und geben solchen Senioren Rechtsbeistand.“

Indien braucht ein politisches Programm für die Alten. Dabei sollte nicht nur über finanzielle Sicherheit nachgedacht werden, sondern auch über sozialpsychologische Aspekte, Gesundheit und Unterkünfte.

Usha Munshi, Mumbai

Deutschland:Best Ager Deutschland

Altersarmut? Von wegen! Deutsche Senioren sind finanziell gut gerüstet, zufrieden und jung wie nie. Noch ist die Rente sicher.

Deutschland steckt in den besten Jahren, in den „goldenen Jahren einer gereiften Volkswirtschaft“, wie Bevölkerungsforscher Reiner Klingholz sie nennt. Noch zehre das Land von der demografischen Dividende der geburtenstarken Jahrgänge aus den 1960er-Jahren, die fest im Berufsleben stehen, erklärt der Leiter des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung. Die Babyboomer treiben die Wirtschaft voran. Gleichzeitig sinken die öffentlichen und privaten Ausgaben für die immer kleiner werdenden Nachwuchsjahrgänge.

Doch schon bald werden sich die Kinder der Sechzigerjahre zur Ruhe setzen. 2026 erreichen die ersten von ihnen die gesetzliche Regelaltersgrenze, die seit 2012 schrittweise von 65 auf 67 Jahre angehoben wird. In der Realität halten wenige so lange durch: Wer 2013 in Rente ging, war im Schnitt erst 62 Jahre alt – und hatte statistisch betrachtet noch mehr als 20 Lebensjahre vor sich. Viele Senioren starten im Rentenalter in einen neuen, aktiven Lebensabschnitt. Laut einer Studie der Generali-Versicherung fühlen sie sich im Schnitt fast zehn Jahre jünger. Sie treiben Sport, treffen Freunde, engagieren sich ehrenamtlich und bilden sich weiter. Ihre Selbstständigkeit bewahren sich die jung gebliebenen Rentner so lange wie möglich: Fast jeder zweite lebt in den eigenen vier Wänden, entweder allein oder mit dem Lebenspartner zusammen.

Eine längere Lebenserwartung bedeutet im Umkehrschluss auch eine längere Rentenbezugszeit. Dem gesetzlichen Rentensystem, in dem die Beiträge unmittelbar auf die Leistungsempfänger umgelegt werden, steht ein Kraftakt bevor. Statistisch betrachtet finanzieren heute 100 Personen im erwerbsfähigen Alter etwa 35 Menschen im Rentenalter – im Jahr 2045 wird das Verhältnis 100 zu 55 betragen. Jeder dritte Bundesbürger wird dann bereits seinen 60. Geburtstag gefeiert haben. Finanzexperte Bernd Raffelhüschen von der Universität Freiburg fordert, das Rentenalter an die steigende Lebenserwartung zu knüpfen und weiter anzuheben. Eine Frage der Gerechtigkeit, meint Raffelhüschen und sagt in einem Interview mit dem „Mannheimer Morgen“: „Wer länger lebt, kann doch nicht erwarten, dass er jeden Tag, den er länger lebt, vollständig in Rente verbringen kann.“

Dafür müsse zunächst ein Umdenken in der Personalpolitik vieler Unternehmen stattfinden. Altersdiskriminierung ist in Deutschland per Gesetz verboten, und doch berichtet die Antidiskriminierungsstelle des Bundes, dass jeder fünfte Deutsche schon einmal wegen seines Alters benachteiligt wurde. Anträge für Kreditkarten und private Krankenversicherungen werden ab einem bestimmten Alter abgelehnt, je nach Bundesland müssen Hochschulprofessoren mit 65 in Rente gehen, und verbeamtet wird nur, wer unter 45 ist. Besonders betroffen von Altersdiskriminierung sind Senioren auf Arbeitssuche. Sie finden sehr viel schwerer eine neue Beschäftigung als Jüngere. Dabei berichten Unternehmen, die über 50-Jährige einstellten, laut einer Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung mehrheitlich von positiven Erfahrungen. Sie schätzten vor allem die lange Berufserfahrung.

Um ihre Finanzen muss sich die Mehrzahl der heutigen Rentner keine Sorgen machen. Im Durchschnitt hat jeder Rentnerhaushalt ein Nettomonatseinkommen von rund 1.900 € zur Verfügung. Schlecht sieht es aber für die aus, die sehr niedrige Einkommen hatten oder nur für wenige Jahre in ihre Altersversorgung einbezahlt haben – ihre Rente ist entsprechend niedrig und liegt manchmal unter dem Sozialhilfeniveau. Deshalb wird die Einführung einer Mindestrente diskutiert.

Britta Scholz, Bargteheide bei Hamburg

Brasilien Ein junges Land wird älter

Rente mit 55 und zum halben Preis ins Fußballstadion – das hört sich nach Paradies für Senioren an. Doch auch in Südamerika ändern sich die Zeiten.

Es ist eine an sich positive Entwicklung, die Brasilien verändert: Familien mit um die zehn Kindern werden seltener – die Geburtenrate sinkt, und die Lebenserwartung steigt. Beides sind Folgen der Sozialreformen der vergangenen Jahre. Trotz weiterhin gravierender Probleme haben sie die Gesundheitsversorgung verbessert und das Bildungsniveau erhöht. Noch sind Senioren eine Minderheit, doch 2055 wird hier die Zahl der über 60-Jährigen die der Menschen unter 29 Jahren übersteigen.

Zum brasilianischen Rentensystem leisten Arbeitnehmer, Arbeitgeber und der Staat Beiträge. Derzeit gibt es zwei Modelle: Wahlweise kann man ab einem bestimmten Alter in Rente gehen oder nach einer bestimmten Zahl von Beitragsjahren. Das Alter liegt bei 60 Jahren für Frauen und bei 65 Jahren für Männer. In ländlichen Gebieten haben viele Frauen schon mit 55 Jahren das Recht, in Rente zu gehen (Männer: 60 Jahre). Für alle gilt: Um Anspruch darauf zu haben, muss man in seinem Leben mindestens fünfzehn Jahre gearbeitet haben. Alternativ kann man aber bereits früher aus dem Arbeitsleben ausscheiden, Frauen nach 30 Beitragsjahren (Männer: nach 35 Jahren). Wer also früh angefangen hat zu arbeiten, darf schon mit 50 oder 55 Jahren in Rente gehen. An Werktagen sind Brasiliens Strände bevölkert von noch überhaupt nicht greis aussehenden Rentnerinnen und Rentnern. Doch auch heute schon arbeiten 42 Prozent der Rentner weiter, zumindest in Teilzeit, um die niedrigen Renten aufzubessern. Und das, obwohl die Familie in Brasilien sehr hochgehalten wird – Angehörige finanziell zu unterstützen gilt als selbstverständlich. Doch wenn die Jungen niedrige Einkommen haben oder ihren Job verlieren, fehlen ihnen die Mittel, um den Eltern im Alter etwas abzugeben.

Jetzt will die Regierung die Verfassung ändern: Rente erst mit 65 – und nach mindestens 40 Beitragsjahren. „Das ist ein Rückschritt und nimmt den Bürgern Rechte, die sie errungen haben“, sagt Eduardo Fagnani, Wirtschaftsprofessor an der Universität Campinas im Bundesstaat São Paulo. Zehntausende Brasilianer sind in den vergangenen Monaten gegen die geplante Änderung auf die Straße gegangen. Sie wollen einen Status quo verteidigen, der bisher den Senioren viele gesetzlich garantierte Vergünstigungen bringt. Wer 60 oder älter ist, muss sich in Supermärkten, bei der Post und in Banken nicht in die langen Schlangen der gewöhnlichen Kunden einreihen – für diese Altersgruppe gibt es spezielle Kassen und Schalter. Zudem zahlt sie generell nur den halben Eintrittspreis, ob fürs Kino oder ins Fußballstadion. Und ab dem 65. Lebensjahr fährt man in öffentlichen Verkehrsmitteln gratis.

Beatriz Miranda, Rio de Janeiro