Editorial
Alter und Wohlstand hängen miteinander zusammen.
»Einsamkeit ist ein brutaler Killer, Gemeinschaft rettet Leben.«
Hat sich Mick Jagger je gefragt, ob er mit Mitte 70 auf der Bühne herumhampeln sollte? Nein. Er tut’s einfach. Nicht die Gesellschaft weist den Alten ihre Rolle zu; sie erledigen es selbst, mit Gesten der Selbstverzwergung, Unteranpassung und dem permanenten Entschuldigen für ihre Anwesenheit. Senioren sind wie Vulkane: manche erloschen, manche ruhend, manche sehr aktiv.
Die Harvard-Psychologin Ellen Langer hat eindrucksvoll gezeigt, welche Kraft in einer optimistischen Einstellung steckt. Langer drehte jene Sehtesttafeln, die wir neulich erst beim Optiker verfluchten, für ein Experiment einfach um. Nun lagen die kleinen Buchstaben oben, nach unten hin waren die Lettern immer einfacher zu lesen. Plötzlich erkannten die Probanden die Buchstaben deutlich besser als zuvor. Die Sehkraft hatte sich verbessert, weil sich die Senioren mehr zutrauten. Denn die Wahrscheinlichkeit, einen Buchstaben zu erkennen, stieg mit jeder Zeile. „Hedonistische Adaption“ nennen Wissenschaftler das Talent des Menschen, auch nach Rückschlägen wieder auf das alte Level halbwegs erträglicher Laune zurückzufinden.
Am Deutschen Zentrum für Altersfragen wird inzwischen erforscht, wie Senioren „ihre negativen Einstellungen verändern können“, so Psychologie-Professor Clemens Tesch-Römer. Endlich sagt’s mal einer. Das Image des Rentners ist verheerend. „Das Alter entgiften“, hat der verstorbene FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher in seinem Bestseller „Das Methusalem-Komplott“ gefordert.
Bei diesem „Entgiften“ hilft die Sichtweise der Altersforscher. Gerontologen unterscheiden ein Drittes und ein Viertes Alter. Im Dritten Alter funktionieren Kopf und Körper gut genug, um Radwanderwege, Pilgerpfade und Kulturfestivals zu bevölkern. Ab dem 80. Lebensjahr etwa beginnt das Vierte Alter mit zunehmender Gebrechlichkeit, die Hilfe nötig macht.
Doch selbst diese Jahre müssen nicht zwingend in der Massenpflege enden, wie zahlreiche Beispiele in meinem Buch „Restlaufzeit“ beweisen. Die schlichte Erkenntnis: Einsamkeit ist ein brutaler Killer, Gemeinschaft dagegen rettet Leben. Der frühere TV-Reporter Sven Kuntze, der probegelegen hat in einigen Heimen, weiß: „Die Zukunft gehört der Gemeinschaft, welcher Größe, welchen Stils auch immer, wo Menschen selbstbestimmt leben und bei Bedarf Hilfe bekommen.“
Zugleich ist es an der Zeit, die jungen Alten in die Pflicht zu nehmen. Das Dritte Alter bedeutet eben nicht permanenten Urlaub auf Kosten der Gemeinschaft, mit muckschem Das-steht-mir-zu-Gesicht, sondern vielmehr Verantwortung für sich selbst und andere. Lakonisch merkte der große Journalist und Buchautor Peter Scholl-Latour an: „Ich arbeite jeden Tag. Wäre ich mit 65 pensioniert worden, wäre ich schon lange tot, und wenn nicht tot, dann doof.“
Nur etwa 15 Prozent der Erwerbstätigen sind mit dem 65. Lebensjahr tatsächlich ausgebrannt. Der große Rest strotzt oftmals vor Tatendrang. Ist es eine Zumutung, den fitten Alten ein paar Pflichten aufzuerlegen, etwa sich halbwegs fit zu halten an Körper, Geist und Seele? Darf eine Gesellschaft, die über Jahrzehnte Rente bezahlt, ein wenig Mitwirkung erwarten? Ob in Bibliotheken oder Parks, in Schulen, Kitas, der Lokalpolitik oder, ja, in der Altenpflege – überall werden gelassene, erfahrene Hände gebraucht. Zehn Stunden Gemeinschaftsarbeit die Woche – zu viel verlangt von einem 70-Jährigen? Nein. Denn mit der Aufgabe kommt der Sinn. In neuen Rollen können Gereifte als Weise und Schlichter, als Hüter der Traditionen oder Bewahrer der großen Erzählungen wirken. Wo aber Sinn entsteht, haben Langeweile, Einsamkeit und Verzweiflung keine Chance.
Alexander Künzel, Vorstandsvorsitzender der Bremer Heimstiftung, bringt es auf den Punkt: „Es gibt bald nicht nur mehr alte Menschen – es gibt auch viel weniger arbeitende Menschen. Uns werden schlicht die Pfleger ausgehen. Wir müssen künftig viel mehr Freiwillige gewinnen. Ich setze auf die rüstigen Rentner. Wir bieten mit der Volkshochschule Kurse an, die Anregungen geben, wie man sich in der Stadt einbringen kann. Die rennen uns die Tür ein. Wir haben ein Riesenpotenzial.“
Allen wäre geholfen. Die Einsamkeit wäre gelindert, der große Graben zwischen Untätigen und Werktätigen wäre überbrückt. Wertschätzung käme auf, das soziale Klima gewinnt. Eine utopische Vorstellung? Ach was. Fördern und Fordern gilt für alle Abschnitte des Lebens.
Paradox, aber wahr: Der Respekt vor der Reife wird erst wachsen, wenn wir nicht länger nur über Rechte, sondern auch über Pflichten reden. Altern als potenzieller Dienst an der Gemeinschaft, wo es eine Menge zusammenzuhalten gibt. Wer ernst genommen werden will, sollte sich auch selbst ernst nehmen. Was wir unseren Kindern predigen – „Raus aus der Komfortzone!“ –, das dürfen wir auch uns selbst zumuten. Wie die Jugend bietet das Dritte Alter gleichsam spiegelbildlich eine Lernund Experimentierphase. Genug Energie, Kreativität und Wissen sind vorhanden.
Keine Frage: Es sind viele Aufgaben zu lösen, wir bewegen uns auf unbekanntem Terrain. Aber erst wenn wir uns im Alter selbst schätzen lernen, werden uns die Nachgeborenen den gebührenden Respekt entgegenbringen. Befreit vom Druck der Karriere, der Kinderbetreuung und der Stechuhr wird reichlich Freiraum geschaffen für mehr Sinn im Leben als Fernsehen, Einkaufen und Klagen. Etwas knappere finanzielle Mittel können bei dieser Transformation unseres Altersbilds durchaus helfen.
Es wird zu viel über Geld geredet in einer Altersdebatte, die sich um Prozentkrümel dreht anstatt um die großen Fragen nach Sinn und Würde. Dabei sind unsere Sprache, unsere Bildungsbereitschaft, unsere Haltung, unser Miteinander unterschätzte Zusatzrenten und Medikamente. Ein gutes Wort oder eine positive Erfahrung haben die Kraft, unser ganzes neuronales System neu zu befeuern, zum Guten wie zum Bösen. Fortschritt, Heilung und Wachstum sind jederzeit möglich, auf allen Ebenen.
Eine Langzeitstudie vom University College London zeigt, dass glückliche Senioren langsamer körperlich abbauen. „Glück“ aber meint weit mehr als jene materielle Sicherheit, die gerade von den ängstlichen Deutschen als Inbegriff eines zufriedenen Lebens missdeutet wird. So mancher fidele 90-Jährige ist nicht deswegen reger als trübsinnige Endsechziger, weil er bessere Gene oder mehr Rente hat, sondern wegen seiner gesünderen Haltung zum Leben. Wir müssen uns also selbst kümmern, um unsere Gesundheit, unser Hirn, unsere sozialen Kontakte, unsere Finanzen, unser Bewusstsein und unsere Seele. Dabei gilt: Unser Gesamtbefinden wird nur so gut sein wie der schwächste dieser Faktoren. Wer viel Geld besitzt, aber keinen Sinn im Leben sieht, wird nicht erfolgreich altern. Wer aber von allem hat, dem blühen gute Chancen auf eine erfüllte Restlaufzeit.